11. September 2017

Brigitte Riebe. Über deutsche Schicksale.

Foto © Schelke Umbach
Heute erscheint der neue Roman von Brigitte Riebe und zum ersten Mal erleben wir die Schriftstellerin nicht wie gewohnt im tiefsten Mittelalter, sondern erstmals im 20. Jahrhundert. Marlenes Geheimnis heißt der Roman, der uns mit Christiane "Nane" Auberlin auf Spurensuche gehen lässt. Ein altes Tagebuch enthüllt die Erlebnisse der Großmutter Eva, die nach Kriegsende aus Reichenberg, heute Liberec in Tschechien, vertrieben wird und als Sudentendeutsche ihre Heimat verlassen muss. Doch ihr gelingt die Flucht über hunderte Kilometer bis an den Bodensee. Marlenes Geheimnis ist kein Buch bei dem ich seufzend sage: "Hach, ist das schön!" Es ist eines über deutsche Geschichte, das mich zu Tränen gerührt hat. Authentisch, so echt und wahnsinnig packend & bewegend.

Wieso hast du mit Marlenes Geheimnis den Sprung ins 20. Jahrhundert gewagt?

Im Studium war einer meiner Schwerpunkte seit jeher das 20. Jahrhundert. Ich habe mich schon damals intensiv mit der spannenden Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und danach beschäftigt. u.a. auch an der Ausstellung "Die zwanzig Jahre in München" als Museumspädagogin beteiligt. Das Thema ist mir also bestens vertraut. Dann gab es eine ganze Reihe von Jahren den Mittelaltern Hype- auch Romane aus dieser Zeit habe ich gerne erzählt, aber nun ist es für mich persönlich genug mit Pest und Cholera. Gerade in einer Epoche wie unserer, wo Elemete sich zu Wort melden, die wir länsgt für ausgestorben und überwunden hielten, ist es mir wichtig, einen besonders scharfen Blick auf das zu werfen, was hinter uns liegt- das 20. Jahrhundert. Nur wenn wir begreifen, woher wir kommen, können wir auch die richtige Entscheidung treffen, wohin wir gehen sollen. Das gilt nicht nur für uns Deutsche. Das gilt für ganz Europa- und für die ganze Welt.

Seit 1945 gehört die Stadt Reichenberg als Liberec zu Tschechien, das nach Kriegsende wiedererrichtet wurde. Die ansässigen deutsche Bevölkerung wurde enteignet und vertrieben, so auch Eva. Ihre Erlebnisse und ihre Flucht sind nichts, was man so leicht lesen kann. Ich musste oft schwer schlucken. Fielen Dir da Recherche und Schreiben schwer?

Das war auch manchmal schwer für mich. Meine mütterliche Familie stammt ja aus dieser Region, und für mich war als Kind die Unterhaltung meiner Mutter, meiner Tanten, meiner Großmutter und Urgroßmutter über jene Zeiten normal. Das lief so an mir ab- bis ich ungefähr 12 war und begriffen habe, dass dieser Krieg, von dem sie ständig redeten, erst acht Jahre vorbei war, als ich zur Welt kam. Ich glaube, in jenem Momenten wurde meine Liebe zur Geschichte geboren. Seitdem bin ich bekennender Histo-Junkie... Und trotzdem: Erst, als ich mich diesem Romanthema näherte, hab ich plötzlich begonnen, ganz anders zuzuhören- und auch andere Fragen zu stellen. Und meine noch lebenden Verwandten (Oma und Uroma sind leider schon tot) haben auch angefangen, ganz anders zu erzählen, allen voran meine 89-jährige Mutter, die geistig noch total fit ist und sich an ALLES erinnert. Plötzlich wurde alles so enorm lebendig, zum Greifen nah...
Beim Schreiben habe sich diese Eindrücke dann noch einmal verdichtet. Ja, ich musste zwischendrin immer wieder mal aufhören, mich auf mein Fahrrad setzen und ein paar Runden im Englischen Garten drehen, bevor ich weiterschreiben konnte...

Du schreibst über ein deutsches (Familien)schicksal. Wieso hast Du dich speziell für die Sudetendeutschen entschieden?

Wir haben schon viele über Ostpreußen gelesen und gesehen, und auch einiges über die Flüchtlinge aus Schlesien. Die Sudetendeutschen fehlen bislang. Dabei lebten über drei Millionen Deutsche in Nordböhmen; in meiner mütterlichen Familie mehr als 300 Jahre, Seite an Seite mit ihren tschechischen Mitbürgern. Mir war es ein Anliegen, ihnen eine Stimme zu geben- fernab von allen unangenehmen Veranstaltungen wie Landsmannschaften & Co, die im politischen Bild der BRD in den vergangenen Jahrzehnten ja nicht immer durchweg positiv ausgefallen sind. Deshalb verliebt sich meine Heldin Eva ja auch in den jungen Tschechen Jan, um zu zeigen, dass Liebe weder Nationalitäten, noch Grenzen kennt...

In Marlenes Geheimnis geht es ja nicht nur um Eva und die kleine Marlene. Indem Du die Enkelin Christiane die Aufzeichnungen der Großmutter lesen lässt, holst Du in der Gegenwartsebene noch eine weitere Generation hinzu. Was ändern diese beiden Ebenen an der Wirkung des Romans?

Ich wünsche mir, dass meine Leserinnen und Leser erkennen, wie sehr Vergangenheit und Gegenwart ineinander greifen. Wir alle halten uns für individuell und einzigartig- und das sind wir in gewisser Weise ja auch. Und doch liegt auf jedem von uns auch die Vergangenheit, vielleicht sogar mit einer Art "Familienauftrag", den wir erfüllen oder verweigern. Erst wenn es uns gelingt, das zu durchschauen und zu begreifen, können wir wirklich frei sein für unser Leben. So geht es Nane in meinem Roman. Die verworrenen Verhältnisse von früher schwächen auch sie. Sie beginnt, klarer zu sehen, als sie sie nach und nach aufdröselt...

Was war ein besonderer Moment bei der Arbeit an Marlenes Geheimnis? Ob besonders spannend, bewegend oder aufwühlend?

Das war die Beschäftigung mit dem Dorf Lidice, das die Nazis in einer einzigen Nacht brutal ausgelöscht haben. Unvorstellbar für uns heute in Deutschland- und dennoch passiert ähnlich Grauenhaftes zur gleichen Zeit an vielen Orten der Welt. Ich finde, wir müssen dafür sorgen, dass es kein Lidice mehr geben kann- nirgendwo.

Gibt es etwas, das Du durch das Schreiben von Marlenes Geheimnis gelernt hast? Hat sich irgendetwas für Dich verändert?

Ich lerne in jedem Roman, den ich schreibe, Neues. Das ist das Schöne an meinem Beruf, und deshalb liebe ich ihn so sehr. Hier war es vielleicht das ganz besondere Augenmerk auf die sogenannten Nebenfiguren, die in Wirklichkeit viel mehr als das sind, sondern die Stützen der Haupthandlung: Molly, Carl, der Maler Inbrecht, Brian, Simon Bentele, die Köberlinfrauen, sogar der schmierige Raible und viele andere mehr (nicht zu vergessen die wunderbaren Hündin Souki)- sie alle tragen einen wichtigen Teil zum Gelingen eines solchen Projekts bei. Also, hallo ihr angeblichen zweiten Reihen: Ihr seid immens wichtig. Ohne euch läuft gar nix! Ich mag euch so sehr!!!

Wenn Du deinen Lesern noch etwas sagen möchtest, dann ist hier noch Platz dafür. Brennt Dir noch etwas auf dem Herzen?

Marlenes Geheimnis ist mein Herzensbuch, weil darin viele Erlebnisse, Gefühle und Schrecknisse meiner eigenen Familie stecken. Mit diesem Buch gebe ich einer ganzen Generation, die oft lange geschwiegen hat, die Sprache wieder. Das könnt ihr auch in euren Familien: redet. Fragt. Bohrt nach, bis ihr wisst, was ihr wissen wollt.
Seid, wie Günther Eich es einst einmal so treffend formuliert hat "Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt."
Das wünscht sich von ganzem Herzen eure Brigitte Riebe.

Schaut unbedingt auch in den kommenden Tagen vorbei, wenn es wieder um Brigitte Riebes neuen Roman Marlenes Geheimnis geht. Die Themen werden sehr interessant und am Ende gibt es ein von Brigitte Riebe SIGNIERTES EXEMPLAR des Romans samt persönlicher Widmung zu GEWINNEN.

Die Drei-Tage-Tour zu Marlenes Geheimnis:
11. September: Brigitte Riebe über Marlenes Geheimnis
12. September: Der Bodensee als Schauplatz
13. September: Das Massaker von Lidice

Die Website der Autorin ist hier
Mehr zu Marlenes Geheimnis gibt es hier
Das "echte" Schicksal hinter Marlenes Geheimnis gibt es hier

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